Sanfter Brüter

Eine kleine private Erfinderschmiede will der Atomkraft zu neuen Höhenflügen verhelfen: Intellectual Ventures hat einen Reaktortyp konstruiert.

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Eine kleine private Erfinderschmiede will der Atomkraft zu neuen Höhenflügen verhelfen: Intellectual Ventures hat einen Reaktortyp konstruiert, der vielen Betriebsrisiken der Kernenergie aus dem Weg gehen soll.

Es gibt Menschen, die erklären den Ausbau der Atomkraft für zwingend notwendig, um den Klimawandel zu stoppen. Andere halten diese Auffassung für komplett falsch. Beide jedoch sind sich darin einig, dass nicht der Betrieb von Atomkraftwerken die größte Gefahr birgt. Auch Befürworter räumen ein, dass durch die Anreicherung des Urans und die Wiederaufarbeitung des abgebrannten Brennstoffs waffenfähiges Plutonium in die falschen Hände geraten könnte. Von der Gefahr einer geologischen Endlagerung gar nicht zu reden.

Von Atomkraft-Verfechtern werden diese Probleme meist als unvermeidbar hingenommen. Eine Gruppe von Wissenschaftlern der Ideenschmiede Intellectual Ventures jedoch ist nicht länger bereit, diese Einschränkungen zu akzeptieren: Das kleine Privatunternehmen, das vom ehemaligen Microsoft-Technikchef Nathan Myhrvold gegründet wurde, zeigt nun den mit Millionen geförderten staatlichen Großforschungseinrichtungen, wie man einen Atomreaktor entwickelt, der nur zum Anfahren mit einer geringen Menge an angereichertem Uran beladen werden muss und danach mit nicht angereichertem Uran betrieben wird: Die Forscher nennen ihn schlicht "Travelling Wave (Laufwellen-)Reaktor".

Die Idee klingt auf den ersten Blick bestechend: Der Reaktor "erbrütet", während er läuft, seinen eigenen Brennstoff aus schlecht spaltbarem, nicht angereichertem Uran. Ein solcher Reaktor könne theoretisch hundert Jahre laufen, sagt John Gilleland, Leiter des Atomprogramms von Intellectual Ventures, ohne dass man neues Brennmaterial nachlegen müsste. Mehr noch: Der Reaktor würde selbst mit abgebrannten Brennelementen aus herkömmlichen Atomkraftwerken funktionieren.

Das Konzept ist nicht neu: Der russische Physiker Savelii Moiseevich Feinberg hatte bereits 1958 erstmals die Idee eines Brutreaktors mit nicht angereichertem Uran präsentiert. Allerdings hatten die Russen die Idee niemals umgesetzt. Gut 20 Jahre später untersuchte ein Team von US-Physikern am Massachusetts Institute of Technology (MIT) das Konzept und kam zu dem Schluss, es sei mit herkömmlichen Materialien nicht zu realisieren. Die Idee ruhte noch einmal fast 20 Jahre in der Schublade, bis der Physiker Edward Teller 1996 in einem Aufsatz Pläne für ein "vollautomatisches Atomkraftwerk" präsentierte.

Was der Idee allerdings nicht gerade zu mehr Popularität verhalf: Denn der gebürtige Ungar jüdischer Herkunft galt in liberalen intellektuellen Kreisen geradezu als Inkarnation des technischen Machbarkeitswahns. Als junger Mann hatte der in die USA emigrierte Wissenschaftler das Atomwaffenprogramm energisch mit vorangetrieben, um nach dem Sieg über die Nazis die Entwicklung der Wasserstoffbombe zu unterstützen. Tatsächlich haben Reaktor und Bombe ja auch einiges gemeinsam – jedes AKW nutzt sozusagen eine gezähmte Kettenreaktion: Beim natürlichen radioaktiven Zerfall verlieren radioaktive Atomkerne Protonen und Neutronen. Diese sogenannten Alpha-Teilchen können, wenn sie einen anderen Atomkern treffen, eine Kernspaltung auslösen.

Dabei zerbricht der getroffene Kern in Spaltfragmente und setzt zwei bis drei Neutronen frei. Treffen auch diese Neutronen wieder auf radioaktive Kerne, entsteht eine Art Lawine – immer mehr Neutronen spalten immer mehr Kerne, die immer mehr Neutronen freisetzen, was im Fall der Atombombe binnen weniger Tausendstelsekunden zur Explosion führt. Im Atomreaktor sorgt man dafür, dass pro Kernspaltung im Mittel genau ein Neutron frei wird, das eine weitere Spaltung auslöst – die so gebremste Kettenreaktion setzt eine kalkulierte Wärmemenge frei. Konventionelle Atomkraftwerke der zweiten Generation benötigen daher Uran 235, das sich von langsamen, "thermischen" Neutronen verhältnismäßig leicht spalten lässt. Die Neutronen werden daher von sogenannten Moderator-Materialien wie Graphit abgebremst - Bor in Steuerstäben fängt überschüssige Neutronen ab und sorgt dafür, dass keine ungebändigte Kettenreaktion entsteht.

Das 235er-Isotop ist jedoch in natürlichen Uranvorkommen verhältnismäßig selten. In Brennelementen muss sein Gehalt deshalb auf drei bis fünf Prozent angereichert werden – der Rest besteht im Wesentlichen aus dem schlecht spaltbaren Uran 238. Nach einem Jahr ist der größte Teil des spaltbaren Urans 235 verbraucht – der Gehalt ist auf etwa ein Prozent abgesunken. Dafür hat sich in den Brennelementen unter anderem das giftige und für Atomwaffen taugliche Plutonium 239 gebildet.

Die abgebrannten Brennelemente können "wiederaufbereitet" werden – eine Technik, bei der das Uran aus dem Brennelement herausgelöst wird, um dann eine erneute Anreicherung zu durchlaufen. Wie das Beispiel Iran zeigt, ist die Technologie, die bei der Anreicherung und Wiederaufarbeitung von Brennelementen verwendet wird, allerdings zweischneidig: Aus dem abgetrennten Uran oder gar dem im Reaktor erzeugten Plutonium lässt sich statt eines neuen Brennelementes genauso gut auch ein Atomsprengkopf herstellen.

Der Laufwellenreaktor benötigt nur eine wenige Zenti-meter dünne Schicht Brennmaterial, in dem das Uran 235 bis auf 15 Prozent angereichert ist. Der größte Teil der Brenn- elemente besteht aus Uran 238 – dem Isotop, das bislang gewissermaßen als Abfall bei der Herstellung der Brennelemente übrig bleibt, nachdem das spaltbare Isotop daraus extrahiert wurde. Das ist "der einfachste Brennstoffkreislauf, der überhaupt möglich ist", sagt Charles W. Forsberg, der das Projekt "Nuklearer Brennstoffkreislauf" am MIT leitet. "Man braucht nur eine einzige Anreicherungsanlage, um den gesamten Planeten zu versorgen."

Der Trick besteht darin, dass der Reaktor seinen Brennstoff selbst erzeugt: Die Startspaltung im dünnen Segment aus angereichertem Uran setzt genügend Neutronen frei, die vom Uran 238 eingefangen werden können. Das Uran wird so zu Plutonium 239, das wiederum leicht von schnellen Neutronen gespalten werden kann. Im Unterschied zu einem herkömmlichen Leichtwasserreaktor benötigt man für diesen Reaktortyp also keine Moderatorenstäbe. Ist die Konzentration des erbrüteten Plutoniums 239 hoch genug, setzt sich eine Kettenreaktion fort, die sich in Form einer "Spaltungswelle" mit einer Geschwindigkeit von einigen Zentimetern pro Jahr durch das Brennelement frisst und im Wesentlichen Spaltfragmente wie abgebrannte Asche hinter sich zurücklässt.

Auch in puncto Betriebssicherheit verspricht Gilleland Fortschritte: Zwar sei auch bei diesem Reaktor bei einem Kühlmittelverlust eine Kernschmelze möglich, aber da das flüssige Metall eine große thermische Trägheit besitzt, habe man gegenüber herkömmlichen Reaktoren einen Zeitvorteil, erklärt Gilleland. "Wenn die Kühlmittelpumpen ausfallen, haben wir etwa einen Tag Zeit, um Gegenmaßnahmen einzuleiten – verglichen mit Sekunden bei einem Siedewasserreaktor."

Der größte Vorteil des Reaktorkonzepts aber sei seine Nachhaltigkeit. "Das Schöne an Uran 238 ist, dass davon so viel herumliegt, dass es eine Weltbevölkerung von rund zehn Milliarden Menschen, die pro Kopf so viel Energie verbrauchen wie zurzeit die US-Bürger, für rund 10000 Jahre mit Energie versorgen könnte", erklärt Gilleland begeistert. "Die Frage der Energieversorgung wäre damit vom Tisch!"

Nicht allerdings das Problem des radioaktiven Mülls, wie der Forscher einräumt: Die Zusammensetzung dieses Abfalls sei ganz ähnlich dem von herkömmlichen Leichtwasserreaktoren, allerdings mit weniger Plutonium. "Nach den Studien, die wir durchgeführt haben, ist der Müll etwas weniger gefährlich als der, den man heute aus Siedewasserreaktoren bekommt", betont er. "In der zweiten Generation, wenn wir einen höheren Abbrand erreichen, wird das aber signifikant besser", denn der Anteil an extrem langlebigen oder toxischen hochradioaktiven Stoffen sei dann bedeutend geringer als in herkömmlichen Systemen.

Seinen größten Vorteil kann das Reaktorkonzept allerdings erst mit dem sogenannten Thorium-Zyklus entfalten: Dabei wird Thorium zu Proactinium umgewandelt, das gespalten wird, um Energie zu erzeugen. Übrig bleibt spaltbares Uran 233, das dann von der Spaltungswelle zur Energieerzeugung verbraucht wird. "Leute, die eigentlich gegen Atomenergie sind, sagen an dieser Stelle immer: Wenn ihr das schafft, ist das groß- artig." Der radioaktive Abfall würde damit um Größenordnungen ungefährlicher, weil bei diesem Prozess kein Plutonium entsteht. Allerdings ist das Konzept eines Thorium-Reaktors noch in weiter Ferne, erklärt Gilleland. "Anders als bei Uran ist bei Thorium jedes einzelne Neutron kostbar", denn der sogenannte Wirkungsquerschnitt, also die Wahrscheinlichkeit, dass ein Neutron von einem Thorium-Kern eingefangen wird, ist viel kleiner als im Uran-Plutonium-Prozess. "Wir müssen bei der Konstruktion dafür sorgen, dass nicht ausgerechnet das eine Neutron, das zur Aufrechterhaltung der Reaktion gebraucht würde, von einer Brennelementhülle oder der Reaktorabschirmung absorbiert wird."

Dass die Idee eines solchen Reaktors überhaupt wieder aus der Schublade gezogen wurde, ist im Wesentlichen der Umtriebigkeit von Nathan Myhrvold zu verdanken. Myhrvold, der mit 19 sein Diplom in Mathematik und mit 23 einen Doktorgrad der Elite-Uni Princeton in der Tasche hatte, verkaufte 1986 seine eigene Softwarefirma DynamicalSystems an Microsoft, um für den aufstrebenden Bill Gates als Forschungsdirektor zu arbeiten. Bis 1999 – da schmiss der rastlose Überflieger alles hin, zog durch die USA und grub Dinosaurierskelette aus, um ein Jahr später wieder mit einem eigenen Unternehmen an den Start zu gehen: Intellectual Ventures.

Seitdem tummelt sich die "Erfindungsfabrik" an allen Brennpunkten der Innovation: Kommunikation, Medizin, Nanotechnik – und natürlich auch der Energieversorgung. Alles wird in "Invention Sessions" – interdisziplinären Diskussionsrunden aus hochkarätigen Experten – unter die Lupe genommen, auf mögliche bahnbrechende Erfindungen und Patente abgeklopft. 2006 kamen in einer dieser Sitzungen auch neue Reaktoren auf die Tagesordnung – was damit zusammenhängen könnte, dass zu den Gründern des Unternehmens auch ein langjähriger enger Mitarbeiter von Edward Teller zählt: Lowell Wood. "Nun werden Sie fragen: Warum waren all diese brillanten Wissenschaftler, die in der Vergangenheit an diesem Problem gearbeitet haben, nicht in der Lage, einen solchen Reaktor zu konstruieren", fragt Gilleland rhetorisch.

Denn insbesondere wegen der extrem ungleichmäßigen thermischen Belastung – der Reaktor produziert am Ort der Spaltungswelle Wärme bis zu 500 Megawatt pro Kubikmeter – galt der Reaktor lange als nicht realisierbar. Die hohe Leistungsdichte – etwa fünfmal so hoch wie bei herkömmlichen Atomkraftwerken – führt zusätzlich zu einer extrem hohen thermischen Belastung der Bauteile, die sich weder verziehen noch unter dem ständigen Strahlenbeschuss verspröden dürfen. "Wir haben Wege gefunden, dieses Problem zu lösen", sagt Gilleland, will aber keine technischen Einzelheiten nennen. Profitiert haben sie unter anderem von den mittlerweile veröffentlichten Erfahrungen mit schnellen Brutreak-toren wie dem französischen "Superphenix". Außerdem hat sich die Materialwissenschaft weiterentwickelt – heute gibt es Stähle, die gegenüber Strahlung deutlich widerstandsfähiger sind. "Und schließlich", sagt Gilleland "gibt es mittlerweile sehr viel bessere Computer und Software für die Simulation."

Die ersten Machbarkeitsstudien liegen inzwischen vor. Jetzt arbeitet Gillelands mittlerweile rund 50 Mitarbeiter umfassendes Team gemeinsam mit Partnerfirmen, deren Namen er nicht verraten will, an konkreten Reaktorplänen – und erstellt Studien über die zu erwartenden Baukosten. Die minimale Leistung eines solchen Reaktors liege bei einigen zehn Megawatt, erklärt er, unter zehn Megawatt Anlagegröße werde der Preis pro Kilowattstunde "sehr hoch". Speziell für Entwicklungsländer könne man sich aber auch eine modulare Version vorstellen, die sich beliebig aufstocken lässt – die einzelnen Module hätten etwa 300 Megawatt. Ob und wann sich die Idee tatsächlich verkaufen lässt, ist allerdings noch völlig offen. Intellectual Ventures rechnet mit einem ersten Laufwellenreaktor in den USA nicht vor 2040. "Wir brauchen ein bisschen mehr Begeisterung in dieser Sache", sagt auch MIT-Forscher Forsberg. "Es gibt viel zu viele Leute, die ein Zehntel von einem Prozent verbessern wollen, anstatt etwas wirklich Neues zu probieren." (bsc)