David Cronenbergs "eXistenZ": 25 Jahre seiner Zeit voraus

In "eXistenZ" geht es um Realitätsverlust, Spielesucht und Glaubenskriege. David Cronenberg war seiner Zeit erneut voraus, die Masse guckte lieber "Matrix".

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Von
  • Gerald Himmelein
Inhaltsverzeichnis

"eXistenZ" kam 1999 zu einem denkbar unglücklichen Zeitpunkt ins Kino – vier Wochen nach "The Matrix". Schnell schoss sich die Kritik auf die Parallelen zwischen den beiden Filmen ein: Beide spielen mit den Grenzen der Realität, haben Messias-Motive und reflektieren die um die Jahrtausendwende auflodernde Paranoia.

Bei den Vergleichen ging gern unter, dass David Cronenberg mit "eXistenZ" grundlegend anderes im Schilde führte als die Wachowskis. "The Matrix" handelt von einer virtuellen Welt, in die Menschheit von Maschinen eingesperrt wurden. In "eXistenZ" tauchen die Protagonisten freiwillig in virtuelle Welten ein. Der Held von "The Matrix" ist ein Hacker, der sich von den Schranken einer Scheinwelt befreit. Die Heldin von "eXistenZ" ist eine Spiele-Designerin auf der Flucht vor Mächten, die sowohl nach ihrem Leben trachten als auch nach ihrem Lebenswerk.

Die zentralen Themen von "eXistenZ" sind Fanatismus und Realitätsverlust. "The Matrix" trennt seine Welten übersichtlich nach Farbräumen: grün für virtuell, blau für real. Bei "eXistenZ" fließen die Daseinsebenen subtil ineinander, bis sich sowohl Zuschauer als auch Filmfiguren fragen, wie real ihre Umgebung noch ist.

Die Handlung von "eXistenZ" beginnt mit einer Vorab-Präsentation des titelgebenden, brandneuen VR-Spiels. Wir befinden uns im Jahr 2030, inzwischen laufen Videospiele auf organisch gezüchteten Computern. Die "Game Pod"-Konsolen sehen aus, als habe jemand einen Xbox-Controller in der Mikrowelle geschmolzen und mit Fleischfarben besprüht.

Kaum hat die Präsentation begonnen, steht ein Mann im Publikum auf, brüllt "Tod der Dämonin Allegra Geller!" und schießt die Star-Designerin des eXistenZ-Spiels vor Augen des geschockten Publikums nieder. Der junge PR-Assistent Ted Pikul hilft der verletzten Allegra dabei, dem Attentäter zu entkommen. Beim Anschlag wurde auch ihre Konsole in Mitleidenschaft gezogen -- auf der das einzige Exemplar des Spiels gespeichert ist.

Schnell stellt sich heraus, dass es zwei Gruppierungen auf Allegra und ihre Konsole abgesehen haben: Die erste sind fanatische VR-Gegner namens "Realisten". Die zweite ist das Konkurrenzunternehmen von Allegras Spielefirma, das mit allen Mitteln verhindern will, dass das neue Spiel sie vom Markt fegt.

Die Cast von "eXistenZ" (6 Bilder)

Jennifer Jason Leigh als Allegra Geller, die größte Spiele-Designerin der Welt.

In einem abgelegenen Ski-Resort versuchen Ted und Allegra herauszufinden, ob ihr Spiel überhaupt noch funktioniert. Schnell landen sie in einem Spiel im Spiel, dessen Umwelt immer seltsamer und bedrohlicher wird – bis die Grenzen zwischen Spiel und Realität vollständig zu verschmelzen scheinen.

Die Initialzündung für das Drehbuch war, als David Cronenberg im Jahr 1995 den britischen Schriftsteller Salman Rushdie interviewte. Rushdie war zu diesem Zeitpunkt seit sechs Jahren auf der Flucht vor religiösen Fanatikern, nachdem der iranische Ayatollah Khomeini wegen seines Buchs "Die satanischen Verse" ein Kopfgeld auf ihn ausgesetzt hatte.

Im Film von 1999 fällt das Wort "Fatwa" im direkten Zusammenhang mit der Jagd auf die Spiele-Designerin -- während sie sich in einem Hotel versteckt, wie Rushdie beim Interview mit Cronenberg. Im August 2022 wurde Salman Rushdie während eines Vortrags in den USA mit einem Messer attackiert und schwer verletzt.

Sowohl das Thema des Realitätsverlusts durch VR-Welten als auch des Fanatismus haben seit 1999 nichts an Aktualität verloren. Auch das Thema der fortschreitenden Verquirlung von digitalen Komponenten mit der analogen Welt ist in den letzten 25 Jahren nicht alt geworden. Dabei war "eXistenZ" nicht das erste Mal, dass Cronenberg kalten Blicks weit entfernte Zukunftskonflikte vorhersagte

1983 hatte der kanadische Regisseur mit dem immer noch aufrüttelnden Sci-Fi-Schocker "Videodrome" für Aufsehen gesorgt. Schon damals ein Thema: Wie extreme Medien zu einer zunehmend verzerrten Wahrnehmung der Realität führen. Nicht nur deshalb wirkt "eXistenZ" zeitlos. Lässt man außer Acht, dass die Hauptdarsteller in jüngeren Filmen weitaus mehr Falten im Gesicht tragen, kann man schnell vergessen, dass Cronenbergs VR-Vision ein Vierteljahrhundert auf dem Buckel hat.

Das ist kein Zufall. Damit sein Jahr 2030 auch 25 Jahre später noch futuristisch wirkt, ließ Cronenberg so viel wie möglich aus, was sonst das Alter von Science-Fiction-Filmen verrät. So sind weder Fernseher zu sehen noch konventionelle Elektronik; vermieden wurden auch "modisch" gestreifte Kleidungsstücke, Armbanduhren und Schmuck.

Für ambitionierte Zukunftsvisionen gab es auch kein Geld: Die Macher mussten mit einem frugalen Budget von 15 Millionen US-Dollar auskommen. Zum Vergleich: "The Matrix" hatte ein Budget von 63 Millionen, und selbst das war knapp. Die meisten Effekte sind rein praktischer Natur, und meist etwas ekelhaft anzusehen – nicht umsonst gilt Cronenberg als Pionier des Sub-Genres "Body Horror".

eXistenZ: Eine befremdliche Welt (7 Bilder)

Demnächst im Handel: Der Game-Pod, die Konsole der Zukunft.

Die organisch pulsierenden Konsolen werden über eine Nabelschnur direkt mit dem Bioport am Rücken der Spieler verbunden, der an einen Darmausgang erinnert. Nie wieder aus dem Kopf geht auch die "Gristle Gun", die aus organischen Teilen zusammengesetzte Schusswaffe des Attentäters, die Zähne abfeuert.

Der Einsatz digitaler Effekte reduziert sich weitgehend auf digitale Blutspritzer und andere Unauffälligkeiten. Auch dies war nicht nur der Not geschuldet: Cronenberg war sich bewusst, dass digitale Effekte schnell altern – Morphing für Übergänge von Spiel in Realität wäre finanziell machbar gewesen, hätte aber schon damals altbacken gewirkt.

So sieht die virtuelle Welt des Spiels weitgehend aus wie die Realität, für den Übergang sorgen kreative Schnitte. Wer aufpasst, bemerkt, wie sich mit jedem Wechsel der Realitätsebene die Frisuren und Kleidung der Darsteller ändern. Merkwürdigkeiten wie eine abgelegene Tankstelle, die mit "COUNTRY GAS STATION" ("ländliche Tankstelle") beschriftet ist und von einem Mann namens "Gas" betrieben wird, tragen zur Desorientierung bei.

Haben Filme ein bestimmtes Alter auf dem Buckel, drängt sich die Frage auf: Funktioniert der auch für ein jüngeres Publikum oder nur durch die Nostalgiebrille? Die Antwort darauf ist nicht leicht.

Dass "eXistenZ" etwas merkwürdig aussieht, war schon vor 25 Jahren so. Immer wieder wirken Einstellungen etwas künstlich, wie Kulissen einer Fernsehserie ohne Budget. Personen werden mit viel Kontrast ausgeleuchtet, wodurch tiefe Poren und Hautunreinheiten hervorstechen. Das ist alles kein technisches Ungeschick, sondern Absicht: Der Wahnsinn hat Methode.

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Je mehr sich die Handlung entwickelt, desto mehr verblassen die Parallelen zu "The Matrix". Genauso gut lassen sich Vergleiche mit dem Björk-Musikvideo "Bachelorette" konstruieren. Cronenberg stellt ganz andere Fragen in den Raum als die Wachowskis, Vergleiche bleiben an der Oberfläche.

Hier heißt die Lösung nie "Waffen, jede Menge Waffen"; Gewalt ist schockierend statt cool. Cronenberg meidet auch das Klischee "Wer in VR stirbt, stirbt auch in echt". Im Gegenteil: Droht einer Person echte Gefahr, bricht "eXistenZ" automatisch die Simulation ab.

Versierte Gamer finden schöne Details wieder: etwa die Reaktion der Spieler, wenn das Gameplay sie bestimmte Dialogbäume entlang zwingt. Während ein von der Konsole generierter Mann auf eine Reaktion der Spieler wartet, durchläuft er einen steifen Bewegungs-Loop wie ein NPC aus einem GTA-Spiel.

Mit "eXistenZ" war Cronenberg seiner Zeit weit voraus, und es bleibt zu hoffen, dass das auch so bleibt. Ein letzter Tipp für Interessierte, die den Film noch nicht kennen: Vorher vielleicht keine glitschigen Meeresfrüchte essen.

(vbr)